Jan-Olav Hinz

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Auf dieser Seite finden sie eine Übersicht der von mir oder von mir mit anderen verfassten Beiträge. Die unterstrichenen Artikel sind dieser Seite angehängt. Zu beziehen sind die Publikationen bei der jeweils angegebenen Quelle.

Bewegen - Empfinden . Gestalten
Empfindungsorientiertes Lernen in der Kunstpädagogik; ein Handbuch für LehrerInnen und GruppenleiterInnen
Einführende Texte und 115 in Schulen erprobte Übungen zur Förderung der sinnlichen Wahrnehmung auf 238 Seiten.
Hrsg.: Jan-Olav Hinz
c 2000 by Verlag Christa Limmer,Meezen, www.limmer-verlag.de/programm1.htm
ISBN 3-928922-22-x

Aus dem Empfinden formen - Körperempfinden in der bildenden Kunst S. 17 ff.

Wissenschaft und Kunst

c 2001 Hrsg.:Dr. Fritz Mautsch, Köln; Deutsche Gesellschaft für Transaktionsanalyse e.V.
ISBN 3-88190-275-9

Wahrnehmen und Intuition S. 21 ff.

feldenkrais zeit
Heft 7, ZeitRaum, September 2006
Hrsg:: Verein zur Herausgabe der feldenkrais zeit
Verlag, Vertrieb und Abonnementsverwaltung von Loeper Literaturverlag, Karsruhe, www.vonLoeper.de
ISSN 1615-2971
ISBN 3-86059-637-3

Jan-Olav Hinz, Marianne Schultz-Kleiböhmer
Die innere Fülle finden - Ein Fallbericht aus der Feldenkrais-Praxis S. 29 ff.

Gesundheitsförderung mit der Feldenkrais-Methode

Informationsbroschüre für Patienten, Angehörige, Ärzte und Krankenkassen
c Hrsg.: Feldenkrais-Verband Deutschland e.V.
April 2007, 2. Auflage

Einleitung, Jan-Olav Hinz und Martina Bruseberg S. 4 ff.

Psychosomatische Störungen S.21f

Rehabilitation von schweren Schädel-Hirn-Verletzungen und Schlaganfallpatienten S.26

Zahnärzteblatt Schleswig-Holstein
Sonderausgabe, Fortbildungsprogramm der Zahnärztekammer Schleswig-Holstein, 2. Halbjahr 2008

Gesundheitsförderung in der zahnärztlichen Praxis mit der Feldenkrais-Methode S.11

Jan-Olav Hinz

Aus dem Empfinden formen - Körperempfinden in der bildenden Kunst

Mit der Moderne wird der dreidimensionale Raum in den Bildern geöffnet. Die Zeit und damit die Bewegung wird Thema in der bildenden Kunst.

Nach den Entdeckungen Einsteins ist jede Beobachtung relativ. Jede Festlegung ist nur auf den Zeit- und Standpunkt des einen Beobachters hin gültig. Ein zweiter Beobachter wird später oder von einem anderen Standpunkt aus eine andere Wahrnehmung des selben Gegenstandes haben. Die Relativitätstheorie spiegelt sich auch in der künstlerischen Weltwahrnehmung wieder. Pablo Picasso malt Bilder in denen im Tagesverlauf unterschiedliche Lichtwirkungen der Sonne gleichzeitig wirksam sind. Marcel Duchamp zeigt den „Akt, eine Treppe herab steigend“ als einen Prozess sich überlagernder Bewegungsphasen.

Die Bewegung als innere Bewegung findet sich bei Paul Klee. [1] Nach seinem akademischen Studium der Malerei erkennt Klee in den Zeichnungen die er als Kind fertigte einen ursprünglichen authentischen Ausdruck. Er beginnt seine Kinderzeichnungen systematisch zu untersuchen und sich die Ausdruckskraft dieser Zeichnungen wieder zu erarbeiten.

Er bedient sich dabei folgender Verfahren:
- das Wiederholen der Gesten der früher Blätter, um in der Bewegung die Erinnerung an die kindliche Gedankenwelt wiederzubeleben,
- Er nimmt die Gewohnheit von Kindern auf, die konzeptionell wichtigen Teile  - den Kopf oder die Hände - in ihren Dimensionen überzubetonen,
- assoziativ den Bildaufbau von einem Detail zum Nächsten zu entwickeln,
- der Spannung des Empfindens gemäßes variieren des Drucks bei der Linienführung,
- Experimente mit phonetischen Transkriptionen des Kinderlallens,
- „blindes“ Zeichnen, um von der Kontrolle der Hand durch das Auge auf eine direkte motorische Aktivität überzugehen, die von einer ganz unmittelbaren Expressivität ist.

Klee bezeichnet in seinem Tagebuch diese Art der Linienführung als „psychische Improvisation“ und notiert dazu weiter: „Hier an einen Natureindruck nur ganz indirekt gebunden, kann ich dann wieder wagen das zu gestalten, was die Seele gerade belastet. (...) So wird meine reine Persönlichkeit zu Wort kommen, sich in größter Freiheit befreien können.“[2]

Die Zeichnung und Malerei im Spätwerk von Paul Klee erhält ihre Ausdrucksstärke gerade auch durch die sich aus der Geste entwickelnden gegenstandsfreien Elemente.

Die rein sensomotorische, gestische Malerei fand ein Jahrzehnt nach Paul Klee´s Tod ihren großen Protagonisten in Jackson Pollok.
In den 60er Jahren vollzogen Künstler und Künstlerinnen in ihren Werken den Wandel von der Objektästhetik mit ihrem Anschauungsbezug, hin zur Prozessästhetik mit einem Handlungsbezug.[3] Sie thematisieren wie Wahrnehmung, Bewegung, Leib und Bewußstsein beim Rezipieren von Kunstwerken miteinander verwoben sind. Da Perspektive, Raum und Zeitwahrnehmung an den Leib geknüpft sind, wird der Betrachter zum Schöpfer seiner Erfahrung. Das Werk realisiert sich durch die aktive Aneignung des Rezipienten, im Rezipienten selbst. Das Objekt bietet dabei nur eine Anregung, deren Ergebnis, die daraus gewonnene Eigenwahrnehmung, offen ist, da sie sich im wesentlichen aus der Intensität der subjektiven, wahrnehmenden Bewegung ergibt.

Als Beispiel sei hier aus Franz-Erhard Walthers erstem Werksatz „Blindobjekt“ genannt. Eine zylindrische Nesselhülle von 73 cm Duchmesser und 220 cm länge. Das Objekt wird vom Rezipienten übergestülpt. Die Wandungen nehmen die Sicht vollständig und sind luftdurchlässig. Wer sich im „Blindobjekt“ befindet wird in der Orientierung auf Lauschen, Riechen und Tasten verwiesen. Die Wahrnehmung wird verstärkt auf die leibliche Eigenbefindlichkeit gelenkt. Der Erfahrungsverlauf ist bestimmt durch die Person und ihrer momentanen Verfassung.

Die hier angedeuteten künstlerischen Prozesse und Intentionen bilden einen Hintergrund für die empfindungsorientierte Kunstlehre.
Die beschriebene künstlerische Grundfähigkeit ist, sich selbst im Kontakt mit den Gegebenheiten in den ich mich befinde wahrzunehmen. Das Wahrgenommene kann ich zu einem gestaltbaren Objekt reduzieren und präzisieren (Dies kann auch vorbegrifflich und ungegenständlich aus der Geste heraus geschehen.). Das Objekt wird Bestandteil meiner Umgebung. Ich kann es wahrnehmen und mit meinen Intentionen und Vorerfahrungen vergleichen und die Wirkung auf mich reflektieren. Dann verändere ich das Objekt bis es meiner Intention gemäß wirksam auf mich wird. Damit ist die offene Struktur künstlerischen Handelns umrissen.

Was meine ich nun mit dem wirksam werden des Objektes auf mich. Alles was ich wahrnehme verändert von innen her meine Haltung. Das kann eine unmerkliche Veränderung sein oder eine deutliche. Ein leise Knistern erhöht nicht sichtbar meine Aufmerksamkeit zu lauschen. Ein Knall läßt mich auffahren. Das Gehörte verändert meine Körperspannung, die von mir in Bewegung umgesetzt wird. Ein aus dem „Malen nach Musik“ bekannter Vorgang, in dem eine akustische Struktur in eine malerische übersetzt wird.

Genauso kann ich aber auch die Wirkung einer Architektur oder einer Begegnung, malen, singen oder in eine lyrische Form bringen. Entscheidend ist mein Wahrnehmungsvermögen und meine Bewußtheit wie ich mich im Kontakt zur Umwelt befinde.

Auf diesen Sachverhalt verweisen schon die Künstler-Pädagogen der 20er Jahre.Bei Johannes Itten ist das Wahrnehmen und sich Bewegen unweigerlich miteinander verbunden. „Will ich eine Linie erleben, so muß ich die Hand bewegen, der Linie entsprechend, oder ich muss mit meinen Sinnen der Linie folgen, also seelisch bewegt sein. Endlich kann ich eine Linie geistig vorstellen, sehen, dann bin ich geistig bewegt. Dieses sind nun drei unterschiedliche Grade des Bewegtseins. [...] Vor mir steht eine Distel. Meine motorischen Nerven empfinden eine zerrissene, sprunghafte Bewegung. Meine Sinne, Tast- und Gesichtssinn, erfassen die scharfe Spitzigkeit ihrer Formbewegung und mein Geist schaut ihr Wesen. Ich erlebe eine Distel.“[4]  Diese Erlebnisfähigkeit gilt es für ihn zu fördern. Darum beginnt Itten bei der Ausbildung von DesignerInnen und KünstlerInnen den Unterricht mit Bewegungsübungen. Er möchte das die Studierenden über die Körperwahrnehmung ein Bewusstsein für ihre eigene Gestimmtheit beim künstlerischen Tun entwickeln.

Auch der, von der Musik kommende, Reformpädagoge Heinrich Jacoby[5] hält den Zusammenhang zwischen innerem Spannungserleben und Spannungsausdruck für die Grundlage jeden gestalterischen Handelns.Von dem Sich-selbst-wahrnehmen geht bei ihm die Ausdrucksdifferenzierung aus. Die differenzierte Selbstwahrnehmung sieht er dabei als eine allgemein menschliche Fähigkeit, die wie alle Fähigkeiten der angemessenen Förderung bedürfen, um sich zu entfalten. Er kritisiert das zu frühe und einseitige Einüben von Regeln und Verfahren des Ausdrucks mit Kindern. Bei ihnen werden dadurch die eigenen Impulse sich auszudrücken und in den Kontakt mit anderen zu gehen verunsichert und gehemmt. Er schlägt statt dessen eine nicht an der Kunst, sondern an den Ausdrucksfähigkeiten der Kinder gemessene Förderung vor: „Die Rolle, die Wort, Ton, Linie, Farbe, Körper, Rhythmus in der Erziehung zu spielen vermögen, kann nicht die von Künstlern im landläufigen Sinne sein. Es geht bei all dem um elementare, allgemein menschliche Ausdrucksgebiete, auf denen grundsätzlich jeder zu ähnlichen unmittelbaren uns selbstverständlichen Äußerungen gelangen könnte wie etwa beim Gebrauch der Muttersprache, bei der wir doch auch zuerst an das Ausdrucks- und Verständigungsmittel denken und nicht an Dichtung oder dramatische Rezitation.“[6] Sich ausdrücken zu können beinhaltet bei Jacoby das Erkennen und Einflußnehmenkönnen auf eigene innere Spannungsvorgänge. Sein Ziel ist die Stärkung des Selbstvertrauens durch das Erlebnis des Sich-äußern-Könnens.

Das diese pädagogische Haltung seit den 20iger Jahren nicht zum Allgemeingut wurde bemängelt Hartmut von Hentig[7] noch 1998. Er wiederholt die These, dass Kreativität weniger gefördert werden kann, als dass vermieden werden sollte sie zu verhindern. Von Hentig bietet als positiven Ansatz für die Bildung kreativer Fähigkeiten an, die bewusste Bejahung senso-motorischer und präoperationaler Vorgänge zu fördern, durch die die Kinder einen differenzierten sinnlichen Umgang mit Sachen, Menschen und dem eigenen Körper erlernen. Entsprechend nennt er das Fach an seiner Schule nicht Kunst sondern „Wahrnehmung und Gestaltung“. Darin ist die Voraussetzung für kreatives Handeln, der persönlichen Anlaß mit noch offener Lösung. Ihm sind für die Entwicklung von Kreativität wichtig:

„- die Erfahrung eines Problems, das einem selber zu schaffen macht - noch ohne Lösung, aber mit der berechtigten Erwartung, daß es eine gibt,
- ein ermutigendes Vorbild also,
- der Widerstand der Realität gegen beliebige Einfälle [...] und
- ein ermutigendes Echo, eine sachliche, nicht pädagogische Anerkennung.“[8]

Mit Beginn des 20.Jahrhunderts manifestiert sich ein Paradigmawechsel in der bildenden Kunst. Die innerleibliche Resonanz auf die Wahrnehmung äusserer Vorgänge wird in den Begründungskanon künstlerischen Handelns aufgenommen. Dieses subjektive Element wird von pädagogisch interessierten Künstlern früh erkannt. Sie sehen es nicht nur als künstlerische sondern als allgemeinmenschliche Voraussetzung sich zu orientieren und anderen den eigenen Standpunkt mitzuteilen. Die damit verknüpfte Forderung aus den 20iger Jahren, in den musischen Fächern das Selbstvertrauen des empfindenden Menschen zu stärken, bleibt es noch einzulösen.


[1] Jonathan Fineberg, Mit dem Auge des Kindes, Kinderzeichnung und moderne Kunst, Verlag Gerd Hatje, Stuttgart, 1995 S. 92 ff
[2] Paul Klee, Tagebücher, DuMont, Köln, 1964, Eintrag 842, S. 242 f
[3] Gerhard Graulich, Die leibliche Selbsterfahrung des Rezipienten - ein Thema transmodernen Kunstwollens, Verlag die blaue Eule, Essen, 1989
[4] Itten 1921 zitiert nach Rainer K. Wick, Zwischen Rationalität und Spiritualität - Johannes Ittens Vorkurs im Bauhaus, in: Das frühe Bauhaus und Johannes Itten, 1994
[5] Vergl. Heinrich Jacoby, Jenseits von „Musikalisch“ und „Unmusikalich“, Die Befreiung der schöpferischen Kräfte dargestellt am Beispiel der Musik, Hamburg: Christians Verlag, 1995
[6] a.a.O., S. 12
[7] Hartmut von Hentig, Kreativität - Hohe Erwartungen an einen schwachen Begriff, Carl Hanser Verlag, München/Wien, 1998
[8] a.a.O., S. 73

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Wahrnehmen und Intuition Jan-Olav Hinz

Von Haus aus bin ich Bildhauer. Ein Mensch der mit Materialien, Massen und Formen das zum Ausdruck bringt, wozu ihm seine Worte nicht geeignet scheinen. In diesem Jahr feiere ich mit meiner Frau unseren 5. Hochzeitstag. Ihre Profession ist die Psychtherapie, ihre Methode dieTransaktionsanalyse. Im abentlichen Gespräch offenbart sie mir zuweilen Vorgehensweisen in ihrem Tun. Mein Thema hier wird die profesionelle Weise von Wahrnehmen und Intuition sein und auch inwieweit diese allgemeinmenschliche Fähigkeiten sind, die ich weiterentwickeln kann.

Lassen sie mich mit einem Spaziergang in Rom beginnen. Es ist August. Viele Städter sind ans Meer und in die Berge geströmt. Der Verkehr ist moderat. Zuweilen weht die spielerische Expressivität italienischer Dialoge an mein Ohr. Meine Kleidung ist leicht. Ein warmer Windhauch berührt meine Haut. Ich spaziere sinnlich aufmerksam. Der Weg führt mich an die Piazza della Rotonda zum Pantheon. Mich interessiert, wie der Raum auf mich wirkt. Die Vorhalle bilden 15 Meter hohe Säulen aus Granit, die hoch über mir ein Dach heben. Die Struktur der aufstrebenden Massen, lässt auch mich wach für meine Aufrichtung werden. So vorbereitet, betrete ich den Saal des antiken Tempels. Der Raum ist kreisrund und auf halber Höhe gehen die Wände in die Wölbung einer Halbkugel über. Der Durchmesser und die Höhe des Raumes sind mit 42 Metern identisch. Das einzige Licht fällt durch eine runde Öffnung im Scheitel der Kuppel.
Diese Hülle ist um einen zentralen Punkt gebildet. Der Impuls ihn aufzusuchen wird gestärkt durch den Fußboden, der sich zart zur Mitte senkt, um kurz vor dem Mittelpunkt wieder zu einer sanften Wölbung anzusteigen. Meine Füsse führen mich an diesen Punkt. Die Aufrichtung brachte ich mit. Nun beginne ich mich nach allen Seiten in den Raum zu dehnen, die mich allseits umgebend Hülle zu spüren. Die Raumbildung des Pantheon spiegelt die Interpretation der Welt jener Zeit. Der Mensch ist ganz eingewoben in die irdisch-kosmischen Kräfte. Ihre Aspekte finden ihren Ausdruck in der Vielgestalt des römischen Götterhimmels. In der Architektur nehme ich wahr, wie diese Abformung des Kosmos mich in ihr Zentrum aufnimmt.
Hinaus in die Sonne, zu einem zweiten Versuch.
Die kleine Barock Kirche, Sant´Andrea al Quirinale ist ein Werk Berninis. Die Grundstruktur ist ein Oval, auf dessen kurzer Achse der Eingang und ihm gegenüber der Chor mit Altar liegen. Das Oval ist um zwei Zentren auf seiner Längsachse konstruiert. Trete ich im Angesicht des Altars auf den Kreutzungspunkt der beiden Achsen, habe ich das Empfinden, das der Raum meine Schultern und Flanken leicht zu den Seiten zieht. Das Volumen um mich hilft mein Herz zu öffnen. Die Art der Sammlung in diesem Raum ist also von ganz anderer Qualität. Aus der Allumfassenden Integration ist ein Vis-á-vis geworden.
Die Architekturen bestehen aus Massen, Richtungen, Rhythmen, Öffnungen und Begrenzungen. Kein Begriff wird illustriert und dennoch regen sie präzise Empfindungen an, die die Bestimmung der Gebäude fördert. Selbstverständlich verbindet die Architektur äussere Bewegungen mit denen die im inneren des Leibes wahrgenommenen werden.

Die bildende Kunst des Abendlandes bedurfte eines etwas längeren Weges, ehe sie die Bewegung und innerleiblichen Empfindungen bewusst zum Thema
nimmt. Die Aufgabe der bildenden Kunst war, den Menschen in seiner kosmischen Verbundenheit, im Erstreben und Erlangen sich entwickelnder religiöser
und gesellschaftlicher Ideale abzubilden. Anfangs hüllte sie ihn in den Goldgrund ein. Später positionierte sie den Menschen in den perspektivisch konstruierten Raum. Hier konnten sich die Menschen mittels Aug- und Fluchtpunkt als Subjekte einer objektiven Welt gegenüber begreifen. Aber Betrachtende wie Betrachtetes waren durch diese gedankliche wie malerische Konstruktion der Welt auch fixiert. Für das Erfassen von Prozessen und Bewegungen brauchte es die Öffnung des Raums zur vierten Dimension, der Zeit. Diese Öffnung zur Zeit begann im 19. Jahrhundert. Aus dem Vis-á-vis wird ein Tanz. Turner malt das energetische Wallen von Nebel, Dampf, Rauch und Licht. Die Impressionisten verarbeiten Erkenntnisse der Farbpsychologie in ihren Bildern. Die changierenden Stimmungen von Begebenheiten werden von ihnen in den Vordergrund gehoben. Cézanne beginnt den Raum entgültig aufzulösen. Seine Bilder haben entweder mehrere Fluchtpunke, so dass die Betrachdenden räumliche Situationen von mehreren Standpunkten gleichzeitig erleben oder seine Bildkomposition ist auf den gekrümmten Flächen von Kugel, Kegel und Zylinder aufgebaut. Die einzelnen Figuren lösen sich aus räumlicher Fixierung und befinden sich in einer
schwebenden Bewegung. Der Raum verschmilzt mit der Zeit. Die Kunst vermittelt nicht mehr Gewissheiten, sondern Annäherungen, Ahnungen und Bewegungen, die aus sich überlagernden Wahrnehmungen entstehen. Das Werk wird zum Reflektionsmedium über das „Wie“ des Wahrnehmens und sich Ordnens in der Welt.
Der Künstler, die Künstlerin betreiben dabei Selbststudien, die beispielgebend für die Rezipienten sein können. Die Arbeitsweise Jackson Pollock´s kann dies verdeutlichen. In seinen letzten Schaffensjahren begann er auf am Boden ausgebreiteten Leinwänden die Farbe zu schleudern, gießen und tröpfeln. Impulsgebend waren ihm dabei oft Musikstücke. Er überließ sich, den durch die Klänge motivierten, muskulären Erregungen, die ihm zu Gesten und tänzerischen Schritten wurden. Aus Dosen, in seinen Händen, tropfte unablässig Farbe. Die ineinander verschlungenen Spuren seiner Bewegungen ergaben Bilder, die schauend das Nacherleben des dynamischen Vorganges zuließen.

In den Jahren um 1960 vollzogen einige Künstler und Künstlerinnen in ihren Werken einen weiteren Schritt. Die Kunstobjekte sollten nicht mehr Verweis auf die persönliche, künstlerische Erfahrungen sein, sondern vom Rezipienten als Versuchsanordnung für eigene Erfahrungen verstanden und genuzt werden. Als Beispiel sei hier Franz-Erhard Walther angeführt mit zwei Arbeiten aus seinem ersten Werksatz. - „Blindobjekt“ nannte er eine zylindrische Nesselhülle von 73 cm Duchmesser und 220 cm länge. Das Objekt wird vom Rezipienten übergestülpt. Die Wandungen nehmen die Sicht vollständig und sind luftdurchlässig. Wer sich im „Blindobjekt“ befindet wird in der Orientierung auf Lauschen, Riechen und Tasten verwiesen. Die Wahrnehmung wird verstärkt auf die leibliche Eigenbefindlichkeit gelenkt. - „Nähe“, eine Hartfaserplatte im Hochformat ca. 80 cm mal 50 cm, mit Nessel überzogen und oben mit zwei Lederschlaufen versehen. Je eine der Lederschlaufen kann von einer Person über den Kopf gezogen werden, so dass zwei Personen gleichzeitig das Objekt um ihre Hälse tragen. Die kaschierte Hartfaserplatte hängt zwischen den Personen. Das Objekt hebt die soziale Distanz auf und verhindert gleichzeitig den direkten
Körperkontakt. Die Nahsinne sind angesprochen. Das Riechen der anderen Person, die durch die Wandungen des Objekts wahrgenommenen Atembewegungen vielleicht auch das Lauschen auf deren Rhythmus usw.. Walther thematisiert wie Wahrnehmung, Bewegung, Leib und Bewusstsein miteinander verwoben sind. An den Leib sind die Zeit- und Raumwahrnehmungen geknüpft, die sich im Wahrnehmen der eigenen Haltung, Veränderungen im Muskeltonus, in Atem- und Pulsfrequenz spiegeln. Persönliche Gestimmtheiten werden deutlicher oder in ihrern Veränderungen bewußt. Das Werk realisiert sich durch die aktive Aneignung des Rezipienten, im Rezipienten selbst. Das Objekt bietet dabei nur eine Anregung, deren Ergebnis, die daraus gewonnene Eigenwahrnehmung, offen ist, da sie sich im wesentlichen aus der Intensität der subjektiven, wahrnehmenden Bewegung ergibt. Der Betrachter wird zum Schöpfer seiner Erfahrung.

Wenn ich das Kunstwerk als eine Wahrnehmungsstruktur verstehe und mit
ihm individuelle Erfahrungen initiieren möchte, so stellt das an mich
verschiedene Anforderungen.
Zuerst muß ich mich selbst im Kontakt mit den Gegebenheiten, in denen
ich mich befinde wahrnehmen. Welche Haltung nehme ich in meinem sozialen
oder objekthaften Umfeld ein.
Was schafft eine besondere Resonanz in mir, weckt meine Intuition?
Wie kann ich diesen mir wesentlichen Aspekt aus der Fülle der
Wahrnehmungen auf ein erstes Modell für ein gestaltbares Objekt
reduzieren? Ein Modell das auch ungegenständlich aus der Geste heraus
geformt sein kann. Habe ich eine erste Formskizze wird das modellhafte
Objekt Bestandteil meiner Umgebung. Ich muß es aus professioneller
Distanz wiederholt wahrnehmen um es mit meinen Intentionen und
Vorerfahrungen vergleichen zu können, um die Wirkung auf mich zu
reflektieren. Dann verändere ich das Objekt bis es meiner Intention
gemäß wirksam auf mich wird oder ich erkenne Wirkungen an ihm, die mich
veranlassen meine Intention zu verändern.
Was meine ich nun mit dem wirksam werden des Objektes auf mich. Alles
was ich wahrnehme verändert von innen her meine Haltung. Das kann eine
unmerkliche Veränderung sein oder eine deutliche. Ein leise Knistern
erhöht nicht sichtbar meine Aufmerksamkeit zu lauschen. Ein Knall läßt
mich auffahren. Das Gehörte verändert meine Körperspannung, die von mir
in Bewegung umgesetzt wird. Ein aus dem „Malen nach Musik“ bekannter
Vorgang, in dem eine akustische Struktur in eine malerische übersetzt
wird.
Genauso kann ich aber auch die Wirkung einer Architektur oder einer
Begegnung auf meine Stimmung oder Körperspannung empfinden und malen,
singen oder in eine lyrische Form bringen. Entscheidend ist mein
Wahrnehmungsvermögen und meine Bewusstheit wie ich mich im Kontakt zur
Umwelt befinde.

Lassen sie mich das an meiner Arbeit Lächeln von 1995 beschreiben. Mir
wurde beim Meditieren ein aus meinem Inneren sich entwickelnder Zustand
von Lösung und Zentrierung bewusst. Dieser Zustand wurde deutlicher,
wenn ich ihn mit einem sanften Lächeln verband. Mimik und
Körperempfinden waren übereinstimmend. So verharrend lenkte ich meine
Aufmerksamkeit auf verschiedene Aspekte dieses Zustandes.
Wie nehme ich so meine räumliche Ausdehnung wahr?
Wo in meinem Inneren habe ich ein gesteigertes Empfinden von
Anwesenheit?
Wie erlebe ich meinen Kontakt zum Boden, eher lastend oder erfahre ich
den tragenden Impuls leichter Aufrichtung?
Ist der Zustand blockhaft oder transparent?
Aus der wiederholten Untersuchung formuliere ich Anforderungen an den
Gegenstand in ersten Zeichnungen. Fragen nach sinnvollen sinnlichen
Materialwirkungen werden mich in der Folge beschäftigen.
Will ich nicht nur meine Empfindungen ausloten, sondern strebe die
Kommunikation mit anderen durch das Objekt an, bedarf ich auch der
Fähigkeit zur Empathie. Zumindestens brauche ich eine Phantasie in
welcher Situation andere dieses Objekt entdecken und für ihre eigenen
Untersuchungen nutzen werden. Denn die Betrachtenden werden gehend und
stehend auf das Objekt treffen, nicht sitzend. Und sie werden
unterschiedliche Erfahrungen im Umgang mit Kunstwerken und aus dem
Alltag mitbringen.
Will ich mit den Gegenstandswirkungen ein umrissenes Segment von
Erfahrungen ermöglichen, muß der Gegenstand deutlich genug sein um nicht
unbegrenzte Spekulationen zu befördern. In der Formen- und
Materialsprache kann ich mich an Werke und Epochen anlehnen um den
Rezipienten einen größeren Zusammenhang zu erschließen.Im Gestalten
stehe ich also dem Modell gegenüber und mir selbst.Ich bin nicht nur
empfindend, sondern muß auch wissen wie ich empfinde. Sonst besteht die
Wahrscheinlichkeit, dass mein Tun in individueller Selbstbespiegelung
befangen bleibt.Darum ist für eine professionelle Wahrnehmung eine
weitere Reflexionsebene unerlässlich.Ich vergewissere und entwickele
meineWahrnehmung durch die Betrachtung der Gestaltungen von Kolleginnen
und Kollegen.

Nun war die Rede über Wahrnehmungen in Zusammenhang mit der Kunst.
Was ist daran allgemein und was spezifisch an die Profession gebunden?
Es bedarf einer Gegenprobe. Die in dem Buch „Transaktionsanalyse der
Intuition“ zusammengefaßten Aufsätze von Eric Berne liefern dazu
geeignetes Material.
Die Aufsätze stammen aus den Jahren 1949 bis 1962. In ihnen fokusiert
der Psychiater Berne, Wahrnehmungsprozesse bei der Diagnose und die
Ebenen auf denen er mit seinem Gegenüber interagiert. Dabei leiten ihn
die Fragen: Woraus speist sich mein Handeln undVerstehen? und Welche
Anteile davon sind mir bewusst und kann ich ordnen.
Die ersten Aufsätze muten mir wie Skizzen an, in denen er
unterschiedliche Aspekte dieser Fragen analysiert, um diese Skizzen dann
mehr und mehr zu klären und zu verdichten. Die Konzeptionalisierung der
Transaktionsanalyse wird als Gestaltungsprozeß sichtbar.
Zu den Inhalten.
Sein erster Aufsatz sind Reflektionen über „Das Wesen der Intuition“. Er
nennt darin die Intuition, einen „primär unterbewussten“ Prozess, der
dadurch entsteht, dass Sinnes- und andere Eindrücke miteinander und mit
inneren Spannungen verbunden werden, die auf gegenwärtigen Bedürfnissen
und vergangenen Erfahrungen beruhen.
Das intuitiv Wahrgenommene kann nicht angemessen analysiert oder
verbalisiert werden, ohne das der Wahrnehmende seine Sinneseindrücke auf
die bewussten und kognitiv strukturierbaren Anteile verkürzt. Er sollte
daher offen für die in der Formulierung noch nicht berücksichtigten
Aspekte bleiben.
In der Diagnose besteht ein intuitiver Zugang zum Verständnis der
emotionalen Verfassung anderer in der Nachahmung von Mimik, Gestik und
Körperhaltung (Reflexnachahmung).
Durch den Zustand gleichartiger Muskelspannungen stellt sich ein
spezifisches mit ihr verbundenes subjektives Erleben ein. Er verweist
damit auf die meist unbewußte Ebene der Wahrnehmungen aus unseren
Muskeln, Sehnen und Gelenken. Im Aufwachsen ist in ihnen die
Bereitschaft eher offensiv oder defensiv in der Welt zu stehen zum
Muster geworden. Berne vermutet, das die unbewußten intuitiven
Funktionen einen größeren Einfluß auf Realitätsurteile im täglichen
Leben haben. Er empfiehlt aufmerksam für eigene intuitive Fähigkeiten zu
sein und sie zu pflegen.
Drei Jahre später präzesiert Berne in „Über das Wesen der Diagnose“
Aspekte der Wahrnehmung in bezug auf die eher bewußten Anteile der
Intuition. Im profesionellen Kontext folgt ein Berufsanfänger bei seinen
untersuchenden Wahrnehmungen einem vorgegebenen Katalog. Die Teilurteile
kann er direkt verbalisieren und addiert sie zu einer Diagnose. Der
Student baut ein Mosaik zusammen. Ein erfahrener Kliniker nimmt eher
bildhaft im Sinne einer umfassenden Gestalt sein Gegenüber wahr und
beginnt erst dann das z.T. unter der Bewußtseinsschwelle komplex
Empfundene zu versprachlichen. Der Kliniker zerlegt eine Gestalt.
Berne veranschaulicht das mit einer Analogie zur Motorik. „Der Anfänger
tanzt Rumba, indem er sich daran erinnert , daß er diesen Fuß hierhin
und jenen dorthin stellen muß; mit Hilfe dieses additiven Verfahrens
kommt er recht und schlecht zurecht. Nach einer Weile muß er sich nicht
mehr daran erinnern und er tanzt eine fließende gut integrierte Rumba,
ohne darüber nachzudenken.Wenn er gebeten wird zu erklären wie er das
macht, kommt er vorübergehend auf sein altes System zurück.“ (Berne
1991, S. 79)
Die intuitiven Prozesse sind also integrativ im Sinne einer bildlichen
Vorstellung, während die sprachlichen Vorgänge additiv sind. Erst die
Verbindung der intuitiven Wahrnehmung mit ihrer rationalen Einordnung
und Prüfung ergibt die Diagnose.
Noch zwei Gedanken von Berne:
In „Über das Wesen der Kommunikation“ unterscheidet er zwischen der
intendierten und der latenten Information. Intendiert ist das was der
„Sender“ an Information mitteilen möchte,während die oft unbewusste,
lantente Information durch den Klang der Stimme, Versprecher, Mimik und
Gestik dem „Empfänger“ etwas über den Zustand des „Senders“ mitteilt.
Was für ihn Information ist entscheidet der „Empfänger“ mit dem Fokus
den er setzt. Parallen zu dem oben beschriebenen wahrnehmungskompetenten
Rezipienten werden sichtbar.
Im nächsten Aufsatz folgt die Mahnung zur Vorsicht. Durch unsere (früh-)
kindlichen Anpassungsleistungen an das uns umgebende soziale Klima
können wir in unserer Fähigkeit wahrzunehmen und unsere Wahrnehmungen zu
deuten vorgeformt und eingeschränkt sein.

Der Profi also hat Erfahrung die ihm in Fleisch und Blut übergegangen
zur Intuition wird. Er kann die Wahrnehmungen die zu seiner intuitiven
Setzung führen bedingt Kategorisieren und über die Art und Weise seines
Wahrnehmens reflektiern.

Was machen die Laien?
Berne verweist darauf, daß Kinder auf ihre Art eine hohe Kompetenz haben
Situationen zu definieren. Ihr Gespür für Stimmungen und Spannungen
liegt nicht zuletzt in ihrer Fähigkeit äußere Ereignisse danach zu
beurteilen welche innerleiblichen Empfindungen sie in ihnen verursachen.
Doch diese Fähigkeit geht verloren. Sie verblasst weil nicht nach ihr
gefragt wird.
In einem Schulversuch konnte ich diese Frage nach inneren Empfindungen
wiederbeleben.
Mit Kunstlehrern zusammen machte ich Bewegungsübungen aus dem Tanz oder
der Atemlehre zum Gegenstand des Kunstunterrichts. Mit einer Form, mit
Farbe oder einer Linie notierten die Schülerinnen und Schüler ihre
Wahrnehmungen. Danach konnten sie selbstbestimmt sich sprechend der
Erfahrung annähern.Dieser Ansatz war lohnend wurden die Kinder und
Jugentlichen doch in ihrem Selbst- und Empfindungsbewusstsein gestärkt.
Es fiel ihnen leichter über sich und ihre Konflikte zu sprechen und sie
zu lösen. Darin folgte dieser Schulversuch für den Kunstunterricht ein
wenig den Intentionen eines der Großen in der Kunstwelt. War es doch
einem Beuys wichtiger, dass seine Student selbstbestimmt ihr Leben in einem Alltagsberuf meisterten, als das er sich in Adepten spiegelte.

Literatur
Eric Berne, Transaktionsanalyse der Intuition, Hrsg. Heinrich Hagehülsmann, JunvermanVerlag 1991
Jean Gebser, Ursprung und Gegenwart, Bd. 2-4 der Gesamtausgabe, Novalis Verlag 1986
Gerhard Graulich, Die leibliche Selbsterfahrung des Rezipienten - ein Thema transmodernen Kunstwollens, Verlag die blaue Eule 1989
Volker Harlan, Was ist Kunst? - Werkstattgespräche mit Beuys, Urachhaus 1992
Gudrun Hennig, Georg Pelz, Transaktionsanalyse, Herder 1997
Jan-Olav Hinz Hrsg., Bewegen - Empfinden - Gestalten, Christa Limmer Verlag 2000
Daniel Stern, Die Lebenserfahrung des Säuglings, Klett-Cotta 1992


Die innere Fülle finden                                                        

Im Herbst 2005 begleitete ich Marianne Schultz-Kleibömer für zwei Monate mit Stunden Funktionaler Integrationâ. Meine Beobachtungen und Intentionen in den einzelnen Sitzungen möchte ich hier beschreiben. Ihnen folgen, jeweils kursiv, Mariannes Notizen zu ihrem Erleben.

Marianne ist eine hoch gewachsene Frau, 76 Jahre alt, mit vollem silberweißem Haar. Sie singt in einem Chor und hatte viele Jahre Yoga praktiziert. Einige Monate bevor sie zu mir kam, verstarb unerwartet ihr Mann, mit dem sie ein erfülltes Leben teilte. Sie befand sich in der Phase der Trauer und des Abschiednehmens, als sie mir von neu auftretenden oder sich verstärkenden Symptomen berichtete. Das Knirschen mit den Zähnen stellte sich wieder ein. Zuweilen nahm sie ein Knacken in den Kopfgelenken wahr, mit unangenehmer Ausstrahlung in den Nacken- und Schulterbereich. Während des Singens konnte sie die Töne nicht mehr so lange halten. Ihr Atemvolumen schien kleiner geworden zu sein. Sie war sehr eingenommen von den Fragen wie ihr Alltag jetzt neu zu gestalten sei und wirkte unruhig. Wir vereinbarten zunächst zwei Stunden zur Probe, damit sie die Feldenkrais-Methodeâ und mich in ihrer Anwendung kennen lernen konnte.

Wir begannen unsere Zusammenarbeit.

Nach einem kurzen Gespräch über ihre Tagesbefindlichkeit, tastete ich den Muskeltonus rechts und links von der Wirbelsäule vom Schädel bis zum Kreuzbein und bat sie, sich bequem auf die Seite zu legen. Mit dem Zeige- und Mittelfinger berührte ich sanft Wirbel für Wirbel und gab ihr damit ein Empfinden für die Anwesenheit und den Verlauf ihrer Wirbelsäule. Durch abschnittsweises Komprimieren der langen Rückenstrecker zwischen meinen Händen, konnte sie ihre Muskelspannung auf das notwendige Maß reduzieren. Ich bat sie sich langsam auf den Rücken zu rollen und ihren Rücken wahrzunehmen. Sie empfand Länge und Weichheit.

Unsere zweite Probesitzung war dem funktionalen Zusammenspiel von ihrer Wirbelsäule mit ihren Schultern, Kiefergelenken und Augen gewidmet.
Danach vereinbarten wir weitere fünf Termine. Auf Grund meiner Wahrnehmungen und Mariannes Äußerungen notiere ich mir mögliche Themen für diese Sitzungen. Mein Ziel war es Marianne zu ermöglichen an ihren Ressourcen anzuknüpfen und sie zu entfalten.

01.11.05       Verbinden von Kopf und Oberkörer

Bei unserer dritten Begegnung berichtete mir Marianne von ihrem feineren Empfinden innerer Zusammenhänge, die sich nach den Einzelbehandlungen einstellten. Das Knacken im Kopfgelenk trat deutlich beim Zähneputzen auf, begleitet von Spannungen an der linken Halsseite, von der Schädelbasis bis zum Schulterblatt. Marianne zeigte mir ihre Körperhaltung beim Zähneputzen. Sie stand da mit vorgebeugtem Kopf, bei gleichzeitig zusammengezogenen Schulterblättern und gestreckter Brust- und Lendenwirbelsäule. Ein klassisches Beispiel für das, was Moshe Feldenkrais ein parasitäres Bewegungsmuster nannte. Bei Handlungen, bei denen wir gegen unser Handlungsziel wirkende Muskelgruppen anspannen, wird das Erreichen des Ziels mühselig. Die zusätzlich aufgebrachte Gegenkraft ist parasitär. Um den Kopf nach vorne zu bringen beugte Marianne ihren Hals entgegen der Streckung ihres Rumpfes. Spannungen im Hals waren die Folge. Die zusammengezogenen Schulterblätter verkleinern zudem die Bewegungen des Brustkorbs.

Ich bat Marianne sich mit dem Rücken auf die Behandlungsliege zu legen. Durch Druck auf einen Fuß in Richtung Kopf zeigte ich ihr, wie Bewegungen über ihr ganzes Skelett mit einander verbunden sind. Durch das Ziehen an ihrem Bein, empfand sie ein lang Werden ihres Halses. Die Bewegungen des Halses und des Rumpfes finden ihrer Verbindung am siebenten Halswirbel. Durch das Heben dieses Wirbels spürte sie Endlastung und zeigte einen tiefen Atem. Während sanften Rollens und Hebens ihres Kopfes bat ich Marianne auf die Bewegungsempfindungen in ihrer Wirbelsäule zu achten.

Die Wirbelsäule ist muskulär vielfältig mit den Schulterblättern verbunden. Also brachte ich ihr ihre Schulterblätter in die Empfindung. Danach zog ich an ihren Armen in Richtung Becken und vermittelte ihr das Zusammenspiel von Wirbelsäule, Brustkorb und Schulterblättern beim Rundwerden im Rücken. Das Heben und Rollen ihres Kopfes ist danach leichter und geht weiter.

Im Sitzen nach der Lektion hatte Marianne das Empfinden, das ihr Hals lang ist und zwischen den Schulterblättern beginnt und das ihre Schultern in ihrer „richtigen“ Position hängen.

Marianne erzählte, wie sie abends schon recht müde ihr Zähneputzen mit einem inneren „das auch noch“  verbindet. Mit Situationswitz empfahl ich, statt der Zähneputz-Last, dem altmodischen Begriff „sich bettfein zumachen“ zu folgen und beim Zähneputzen ein inneres Lächeln zu probieren.

Marianne: Vor der Sitzung: Schmerzhafte Verspannungen – abnehmende Tendenz – im Nacken, Knacken in der oberen HWS beim Vorneigen des Kopfes, dauerhafte Anspannung im Kiefer.
Während dessen: Wohltuendes Loslassen sowie Auflösung der Spannungen, feines Wahrnehmen der Empfindungen der an mir vorgenommenen Bewegungen, wie auch des Bewegungsablaufes mit Reaktionen bis in Regionen des Rumpfes
Danach: Angenehmes weiches aufgerichtet Sein der oberen Körperhälfte, totale Entspanntheit. In den folgenden Tagen habe ich meine Aufmerksamkeit auf die Streckung der Halswirbelsäule, Lockerung des Kiefers sowie der Schultern gelenkt, wodurch sich augenblicklich ein Wohlgefühl einstellte.

 8.11.05         Fülle im Atmen

Wir begannen mit einem Gespräch, über das gerade Sitzen am Tisch, bei gleichzeitigem Vorbeugen des Kopfes. Marianne zeigte dabei ein Haltungsmuster, wie sie es beim Zähneputzen beschrieben hatte und kam dann auf ihr geringes Atemvolumen beim Singen zu sprechen. Beim Chorsingen reichte ihr der Atem oft nicht aus und wird von ihr als unzureichend empfunden. Ich bat Marianne laut zu zählen. Sie kam bis zur Dreizehn.

Danach legte sie sich mit der rechten Seite auf die Behandlungsliege, so dass ich mich erst ihrer linken Seite widmete. Zuerst beobachtete ich ihren Atem, um die Bereiche starker und schwacher Bewegung zu erkennen und später zu verbinden. Sie atmete besonders vorne und seitlich, während zwischen den Schulterblättern und im unteren Rücken kaum Atembewegungen zu sehen waren. Als ich meine Hand zwischen ihre Schulterblätter legte, füllte sie ihren Rücken in tiefem Einatem. Dann begann ich ihr Becken im Rhythmus ihres Atems zu rollen. Um das Bild ihres Körpers in der Atembewegung zu vervollständigen, tastete ich entlang ihrer Rippenbögen. Nachdem sie sich auf den Rücken rollte, nahm sie ihre linke Seite voluminöser und bewegter im Atmen wahr. Mit der rechten Seite fuhren wir fort. Wieder in Rückenlage forderte ich Marianne auf, ihre Zunge und gleichzeitig den Unterbauch vor zu strecken, da die Muskeln von Zunge und Nacken miteinander korrespondieren. Danach spürte sie feine Veränderungen im Übergang zwischen Kopf und Hals.

Im Stehen zählte sie bis 21 und beschrieb, dass sie nach der 10 dachte, das nun gleich das Ende kommt, als sie große Atemreserven vom Bauch her mobilisieren konnte und so erheblich weiter zählte als zu beginn. Bei einer Atemtherapie vor Jahren hatte sie nie das Erlebnis soviel Atemvolumen in so kurzer Zeit gewonnen zu haben.

Marianne: ATMEN - Durch das Auflegen der Hände des Behandelnden bekam ich das Gefühl, dass sich mein Atemvolumen erheblich vergrößerte, der beatmete Körperraum fühlte sich weit und rund an, es entstand ein leichtes genussvolles Atmen.
Danach: Ich kann nun meinen Atem bewusst in die von mir gewünschten Abschnitte meines Körpers schicken. – Sehr schnell bemerke ich z.B. jetzt die hochgezogenen Schultern und den Brustkorb – es wird mir sofort bewusst, wie ungünstig sich diese Haltung insgesamt auswirkt. Also: das Erkennen gerade dieser Fehlhaltung passiert ziemlich bald. Die Korrektur ist dann schon ein Aha-Erlebnis.

22.11.05  Wirbelsäule und emotionaler Ausdruck

Marianne berichtete: viel Atemvolumen beim Singen und Sprechen zur Verfügung zu haben. Sie hatte wieder angefangen zuhause zu singen.
Dieses Mal wollte ich ihr Empfinden für die Aufrichtung ihrer Wirbelsäule durch eine Lektion„ Bewusstsein durch Bewegung“ vermitteln. Dafür hatte ich die Lektion „Die Hüfte nach hinten drücken“ ausgesucht. Moshe Feldenkrais entwickelte sie in Tel Aviv, in seinem Studio an der Alexander Yanai (AY) Straße. Die Lektion ist unter der Nummer AY 335 veröffentlicht. Die Bewegungen in der Lektion wirken auf vegetativ gesteuerte Zwischenwirbelmuskeln, kleine Muskeln, die von Wirbel zu Wirbel reichen und unbewusst an der Aufrichtung beteiligt sind. Aus eigener Erfahrung wusste ich, dass sie eine gute Aufrichtung der Wirbelsäule und ein deutliches Empfinden von der oberen Brustwirbelsäule bis zum Kopf vermitteln kann. Das Tragende der Wirbelsäule wird in ihr verbunden mit dem emotionalen Ausdruck der Kieferbewegungen.

Marianne konnte die Grundposition der Lektion gut einnehmen, auf dem Boden sitzend mit vorgestreckten Beinen, die Fußsohlen einander zugewandt. Sonst hätte ich mit Ihr einen Hocker gewählt.
Nach der Lektion zeigte Marianne eine gelassene Aufrichtung, ihr Kopf wurde gut vom Becken aus über die Wirbelsäule getragen. Beim Bewegen des Unterkiefers schilderte sie ein Empfinden, als würden die obersten Wirbel vom Unterkiefer gestreichelt. Ich bat sie während der Tanzstunde, zu der sie gleich gehen würde, wahrzunehmen, ob die Erfahrungen aus der Feldenkrais-Lektion beim Tanzen nachklingen.

Marianne: Arbeit mit dem Becken: Eine total ungewöhnliche Bewegung. Die rechte Beckenhälfte wird nach hinten gedrückt, dabei wird der Rücken rund gedehnt und ich nehme viel Raum wahr. Interessant: das Beteiligtsein feinster Muskeln in bisher unbekannter Weise – auch etwas anstrengend. Ziehende Wahrnehmung im rechten Becken-, Hüftbereich, merkliche Erfrischung dieses Bereiches.
Danach: Das Tanzen danach empfand ich als besonders harmonisch in der Durchführung der Schrittfolge, auch hatte ich eine  bewusstere Wahrnehmung der Schritte und deren Ausführung.
Zusätzliche Feststellung: das morgendliche Aufstehen geschieht jetzt in einer fließenden Bewegung über die seitliche Aufrichtung zum Sitzen und übergangslos mit Leichtigkeit zum Stehen.

29.11.05       Nachgiebig im Rücken

Marianne berichtete nach der vergangenen Sitzung gut getanzt zu haben. Ihre Kiefermuskeln begannen sich zu entspannen. Ihr Atemvolumen war nach wie vor groß, aber das Knacken im Kopfgelenk weiterhin spürbar. In der letzten Nacht schlief sie schlecht. Fragen danach, wie sie ihr Leben einrichten wird, beschäftigten sie. Dabei saß mir Marianne kerzengerade gegenüber. Sich harmonisch mit dem ganzen Rücken zu beugen und nach folgender entspannter Aufrichtung, wählte ich als ein angemessenes Thema.

Ich bat Marianne sich auf den Rand der Behandlungsliege zu setzen und ihren Kopf zu heben und zu senken, verbunden mit dem vor und zurück Rollen ihres Beckens. Meine Hand auf ihrem Rücken half ihr, die Bewegungen in ihrer Rückenmitte wahrzunehmen.

Nach dieser Vorbereitung setzte ich mich ihr gegenüber und bat sie sich mir entgegen zubeugen.

Meine Hände stützten dabei ihre Schultern, um den Rückenstreckern zu ermöglichen ihre Haltearbeit aufzugeben. Marianne fiel es schwer sich mir entgegen sinken zu lassen. Sie behielt lange die Kontrolle über ihre Aufrichtung. Aber nach und nach ließ sie ihren Kopf ganz nach unten hängen.

Sie stellte sich mit hängendem Kopf auf ihre Füße und ich begleitete mit meiner Hand auf ihrem Rücken ihre Wirbelsäule bei der Aufrichtung.

Nach der Lektion tranken wir gemeinsam Tee und spielten dabei damit, den Mund so zur Tasse zu führen, dass Raum zwischen den Schulterblättern entstand und sich ihr Kopf aus einer Bewegung des Beckens heraus nach vorne und unten begab. Der ganze Rücken war nun beim Teetrinken beteiligt.

Marianne: Bei der bewussten Beobachtung beim Essen und Trinken wird mir deutlich, dass ich meine Wirbelsäule sehr steil oder gerade halte, einfach um stabil zu sitzen. Außerdem ist die Höhe des Tisches für mich ein Problem, er ist zu hoch. Ich meine, er zwingt mich zum Geradesitzen. Dabei ziehe ich auch noch die Schultern hoch, gerade dies fällt mir immer mehr auf, weil ich es als sehr unangenehm und anstrengend empfinde. Übrigens bemerke ich jetzt sehr oft die hoch gezogenen Schultern auch in anderen Augenblicken, eine Korrektur ist total entlastend.

06.12.05       Integration

Auf die Frage: „Wie es ihr mit den Themen unserer Zusammenkünfte ginge?“, teilte Marianne mit, dass sie sich nach wie vor zu oft falsch bewege und zu selten richtig. Ich schlage ihr andere Kategorien zur Selbstbeurteilung vor: unbehagliche Bewegungen im Verhältnis zu behaglichem Bewegen. Damit sind Aspekte des Wohlbefindens in der konkreten Handlung mehr betont als Kategorisierungen nach fiktiven Normen. So könne sie das Zähneputzen auch wie eine Tanzimprovisation ausführen.

Während unseres Gespräches waren die Bewegungen ihres Halses wenig mit dem Rumpf verbunden. Es schien mir sinnvoll ihr zu zeigen, wie die Augen Bewegungen in der ganzen Wirbelsäule initiieren, bis hinab zum Becken. Dabei folgte ich einer Lektion, die sich im Rahmen von Seminaren zur Gesundheitsprävention an Büroarbeitsplätzen bewährt hat. Auf dem Hocker sitzend, begann Marianne zum Boden zu schauen und wieder nach oben. Durch meine Hand auf ihrem Rücken, konnte sie die spontan auftretende Beugung in ihrer Wirbelsäule spüren. Das damit verbundene Rollen des Beckens führte sie einige Male isoliert aus, um es dann wieder mit der Kopfbewegung zu verbinden. Der Blick zur Seite, d.h. die Drehung in der Wirbelsäule, kamen hinzu, dann die Seitbeuge beim Blick nach oben und unten. Ihr Hals und Rumpf begannen mehr eine Bewegungseinheit zu bilden.

Nach der Lektion schilderte Marianne ein angenehmes Empfinden ihrer selbst.

Wir kamen im Gespräch auf trübsinnige Arbeiten, die aus Pflicht und Routine erledigt werden und den Reiz von Arbeiten, die wir als neu und interessant erleben. In dem Interessanten schwingt immer auch etwas Lebendiges und Freudiges mit. Ich erinnerte an das Meditieren, in dem jeder Atemzug als neu und einmalig empfunden wird. Jedes alltägliche Handeln kann genauso wahrgenommen werden, in seiner einmaligen gegenwärtigen Ausführung. Ich erinnerte an die Möglichkeit, das Zähneputzen zu tanzen.

Marianne: Ich habe meine Körperhaltung beim Zähneputzen total geändert und Jan-Olavs Empfehlung zum Zähneputztanz aufgenommen - mit großem Vergnügen. Die Empfindungen waren dabei überraschend angenehm. Ich habe das Vorbeugen des Körpers vermieden und mich nur in aufrechter Haltung - aber in sehr lockerer – eben wie im Tanz – bewegt. Es war richtig lustig. 

Einige Wochen später erzählte mir Marianne, dass sie nach unseren Einzelsitzungen häufig alltägliche Handlungen in ungewohnter Weise ausprobierte und dabei eine Lust am spielerischen Variieren für sich entdeckt hatte und auch, dass das Knacken in ihrem Kopfgelenk verschwunden war.

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Einleitung

Das Interesse an der Feldenkrais-Methode ist seit den 80er Jahren kontinuierlich gewachsen. Dabei stehen unter gesundheitlichen Aspekten das Interesse an Prävention und Gesundheitsförderung im Vordergrund sowie der Nutzen, den die Methode als komplementäres Verfahren bei neuronalen, motorischen und psychischen Genesungsprozessen bietet. Solche gesundheitlichen Fragestellungen sind oft begleitet von dem Bedürfnis, mehr über die aktuelle wissenschaftliche Forschung zu erfahren, insbesondere dann, wenn Patienten die Feldenkrais-Methode als ein Element in ihrem Behandlungsplan wünschen.

Diese Broschüre soll Information und Hilfe für Klienten und ihre Angehörigen, Ärzte und Krankenkassen sein. Sie gibt Einblick zur Methode und deren Nutzen im medizinischen Kontext, als auch in den derzeitigen wissenschaftlichen Forschungsstand zur Feldenkrais-Arbeit bei gesundheitlichen Fragestellungen. Die wissenschaftlichen Studien werden durch Praxisberichte ergänzt. Detaillierte Quellenangaben bieten die Möglichkeit zu weitergehender Information. Ergänzend zu den hier ausgewählten Studien verweisen wir auch auf die aktuelle internationaler Forschungsarbeiten der Internationalen Feldenkrais Föderation IFF unter www.feldenkrais-method.org. 

 

Die Feldenkrais-Methode

Die Feldenkrais-Methode ist nach ihrem Begründer Dr. Moshe Feldenkrais (1904-1984) benannt. Er promovierte in Physik und arbeitete mit Irene Joliot-Curie und Frederic Joliot. Während seines Studiums  begann er Judo zu trainieren. Bei der Entwicklung seiner Methode in den 30er Jahren stützte er sich auf seine Kenntnisse als Physiker und Judolehrer und zog Forschungsergebnisse aus Kybernetik, Hirnforschung und Entwicklungspsychologie hinzu.

Das Zentrum der Methode bildet die menschliche Fähigkeit zu lernen und sich lernend wechselnden Bedingungen anzupassen. Das Kind lernt, indem es die Informationen aus den Sinneszellen der Muskeln, Gelenke und inneren Organe mit den Informationen aus der Umwelt in Beziehung setzt. Geleitet wird es von dem Bestreben, innere Bedürfnisse mit dem geringst möglichen Aufwand aus der Außenwelt zu befriedigen. Feldenkrais spricht von organischem Lernen. Durch Wiederholung der erfolgreichsten Bewegungsvarianten entwickelt das Kind Handlungsmuster, die im Zentralen Nervensystem (ZNS) verarbeitet werden. Das Handeln wird einfacher und effizienter.

Die Fähigkeit, sich lernend neuen Bedingungen anzupassen, tritt im Laufe des Lebens bereits im Alltag in den Hintergrund, wird aber insbesondere durch Traumata oder Erkrankungen eingeschränkt.  Die Feldenkrais-Methode als Lernmethode mit therapeutischem Nutzen bietet hier einzigartige Instrumente dieses Lernvermögen wieder zu aktivieren.

Verändert sich die Umwelt, sind körperliche Möglichkeiten nicht ausgebildet oder gehen verloren, ist es von höchster Bedeutung, dass die Betroffenen erneut beginnen ihre veränderten Möglichkeiten in ein für sie angemessenes Gleichgewicht zu bringen. Hier setzt die Feldenkrais-Methode an. Ausgehend von der lebenslangen Fähigkeit unseres Gehirns zu lernen, bietet die Methode Verfahren die anregen, in einer Bewegung bewusst den inneren Empfindungen zu folgen und damit die motorischen Fähigkeiten, das Selbstempfinden und den Kontakt zur Umwelt zu differenzieren. Die Methode fördert die Fähigkeit zur Selbstregulation bei dem Betroffenen, stärkt das Selbstvertrauen, erleichtert die Bearbeitung von Belastungen. Die (Eigen-)Wahrnehmung wird verfeinert, sowie negative Emotionen, Schmerzen und Bewegungseinschränkungen lassen sich verbessern. So werden mit Hilfe  der  Feldenkrais-Methode ungenutzte persönliche Ressourcen mobilisiert und Gesundheitsrisiken reduziert.

Gesundheitsverständnis

Das oben beschriebene  Selbstverständnis der Methode entspricht dem umfassenden Verständnis von Gesundheitsvorsorge, wie es die WHO in der Ottawa-Charta zur Gesundheitsförderung von 1986 niedergelegt hat. Insbesondere bei der Entwicklung persönlicher Kompetenzen bietet sich die Feldenkrais-Methode für die Gesundheitsförderung an. Die Konzepte des lebenslangen Lernens, der Mobilisierung individueller Ressourcen, der Erweiterung von  Kompetenzen zur Bewältigung von Stress und anderen Belastungen ("coping") sind essentielle Bestandteile der Methode. Die Feldenkrais-Methode bietet einen unmittelbar praktischen, individuellen und erfahrungsbezogenen Weg zu ihrer Verwirklichung. Die in dieser Broschüre zusammen getragenen Forschungsergebnisse und Praxisberichte belegen darüber hinaus, dass die Feldenkrais-Methode als komplementäre Methode auch in der Primärprävention (z. B. vor Erkrankungen des Muskel-Skelett-Systems oder bei der Stressprävention) und der Behandlung (Sekundär- und Tertiärprävention) einiger akuter Erkrankungen eine Rolle spielen kann. Es ist zu wünschen, dass die Erforschung dieser Möglichkeiten in den kommenden Jahren zunehmen und vermehrt wissenschaftliche Nachweise geliefert werden.

 

Dabei geht das der Feldenkrais-Arbeit eigene Verständnis von Gesundheit in bestimmter Weise noch über den Ansatz der Weltgesundheitsorganisation hinaus, die in ihrem Gründungsdokument von 1947 Gesundheit als einen Zustand vollständigen körperlichen, psychischen und sozialen Wohlbefindens und nicht allein als die Abwesenheit von Krankheit definiert hatte. Teile der Hirnforschung, des neuen Forschungsgebietes der Psychoneuroimmunologie und der Sport- und Bewegungswissenschaften untersuchen heute die Wechselwirkungen von Gedanken, Gefühlen und Stimmungen mit körperlichen Empfindungen. Stress oder Trauer können das Immunsystem schwächen, Depressionen beeinträchtigen den körperlichen Zustand und umgekehrt können Bewegung und Lauftraining die geistigen Fähigkeiten verbessern. Die jüngste Forschung zeigt, das jedes Erleben einschließlich des Denkens auf Bewegung und Körperwahrnehmung zurück geht. Die Feldenkrais-Methode biete einen schnellen und unmittelbaren Zugang, diese Wechselwirkung zu beeinflussen.

Anwendungsformen und - gebiete

Im Gruppenunterricht ’Bewusstheit durch Bewegung’ werden die Teilnehmenden aufgefordert, Bewegungen im Détail zu erforschen und in ungewohnter Weise zu koordinieren. Sie bekommen Hinweise zum Bewegungsvorgang und lernen, die auftretenden Bewegungsempfindungen und -zusammenhänge wahrzunehmen. So entwickeln die Teilnehmenden Bewusstheit über die eigene Selbstorganisation und bisher vernachlässigte Möglichkeiten. Die Kursthemen sind auf die Anliegen und Bedürfnisse der Teilnehmer abgestimmt.

 

In der Einzelstunde ¢Funktionale Integration’ findet überwiegend ein nonverbaler Dialog zwischen Feldenkrais-LehrerI und KlientIn statt. Man wird passiv bewegt und darin unterstützt, seine Aufmerksamkeit auf das innere Bewegungsempfinden zu richten. Neue Bewegungserfahrungen können so, bei erheblich reduzierter muskulärer Haltearbeit, adaptiert und integriert werden. Aktiviert wird das Potenzial, des Nervensystems, die von außen kommenden Informationen aufzunehmen und zu verknüpfen; hierdurch erweitert sich das Bewegungsrepertoire. Die Klienten können das verbesserte Körpergefühl zur schmerzfreieren und effektiveren Organisation eigenen Handelns nutzen und ihr Selbstbild verändern.

 

Typische gesundheitliche Anwendungsgebiete der Methode sind

  • Prävention bei einseitigen Bewegungsanforderungen am Arbeitsplatz
  • Orthopädische Krankheitsbilder, wie Schmerz-Syndrome, Verletzungsfolgen, degenerative Wirbelsäulenerkrankungen u.a.
  • Entwicklungsstörungen bei Kindern
  • Rehabilitation neurologischer Störungen, MS, Schlaganfall, Parkinson-Syndrome u.a.
  • Begleitung von Psychotherapien bei psychosomatischen Krankheitsbildern

Qualitätssicherung und Kosten

Der Feldenkrais-Verband Deutschland e.V. - gegründet 1985 - ist Mitglied im internationalen Dachverband, der Internationalen Feldenkrais Föderation (IFF). Die Ausbildung zum/zur Gilde-lizenzierten Feldenkrais-LehrerIn unterliegt internationalen Standards. Der Erhalt der Gilde-Lizenz setzt regelmäßige Fortbildung nach festgelegten Kriterien voraus und muss alle zwei Jahre erneuert werden. Die ethischen Richtlinien des Feldenkrais-Verbandes Deutschland e.V. sind bindend für ihre Mitglieder.

Die Leistungen der Feldenkrais-LehrerInnen werden überwiegend privat abgerechnet. In Ausnahmefällen können die Kosten jedoch von den gesetzlichen Krankenkassen erstattet werden. Dafür ist eine ärztliche Verordnung notwendig, sowie der Nachweis, dass die zu therapierenden Beschwerden mit anderen anerkannten Heilverfahren nicht gelindert werden konnten. Auch dann besteht allerdings kein Anspruch auf eine Erstattung. Die Krankenkassen geben Auskunft zur Kostenübernahme. Einige private Krankenversicherungen bieten Zusatzverträge an, in denen die Feldenkrais-Methode enthalten ist. In der Beihilfe für Beamte oder Angestellte des öffentlichen Dienstes ist die Feldenkrais-Methode als Heilbehandlung eingestuft und beihilfefähig, wenn sie ärztlich verordnet wird und wenn die ausführenden Feldenkrais-Lehreri in ihrem Grundberuf  kassenabrechnungsfähig sind.

 

Die Geschäftsstelle des Feldenkrais-Verbandes Deutschland e.V. hilft Ihnen gerne bei der Vermittlung geeigneter ausgebildeter Feldenkrais-Lehrer und -Lehrerinnen in Ihrer Nähe, telefonisch unter 089 - 52 31 01 71 oder informieren Sie sich über  www.feldenkrais.de.

Martina Bruseberg, Jan-Olav Hinz

April 2007

 

Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung, Was erhält Menschen gesund? Antonovskys Modell der Salutogenese - Diskussionsstand und Stellenwert, Forschung und Praxis der Gesundheitsförderung, Band 6, Köln 2001

Karl-Heinz Schulz, Joachim Kugler, Manfred Schedlowski, (Hg.), Psychoneuroimmunologie, Bern 1997

Weltgesundheitsorganisation, Ottawa-Charta zur Gesundheitsförderung, Ottawa 1986

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Gesundheitsförderung in der zahnärztlichen Praxis mit der Feldenkrais-Methode

Im zahnärztlichen Alltag gilt es die Herausforderungen zu bewältigen, die im Spannungsfeld zwischen den Behandlungserfordernissen, der Ergonomie des Behandlers und dem Wohlbefinden des Patienten entstehen. Nicht selten führen sie zu Stress Wirbelsäulenbelastungen und Verspannungen.

Ich möchte in diesem Artikel beschreiben, wie derartige Belastungen durch Übungen aus der Feldenkrais-Methode reduziert werden können.

Die Feldenkrais Bewegungslehre (benannt nach ihrem Begründer Dr. Moshe Feldenkrais) nimmt unsere bewussten und unbewussten körperlichen Reaktionen auf äußere Anforderungen in den Fokus.

Als Kinder lernen wir, indem wir unsere Körperempfindungen, mit den Informationen aus der Umwelt in Beziehung setzen. Geleitet werden wir von dem Bestreben, innere Bedürfnisse mit dem geringst möglichen Aufwand zu befriedigen. Durch Wiederholung der erfolgreichsten Bewegungsvarianten entwickeln wir Handlungsmuster, die im sensomotorischen Kortex gespeichert werden. Unser Handeln wird sicherer.

Im Erwachsenenleben verändern sich unsere Erfolgskriterien. Nicht das körperliche Wohlgefühl gibt vorrangig Auskunft über den Erfolg einer Handlung, sondern die gelungene Anpassung an soziale und kulturelle Maßstäbe.

Sind dabei Körperhaltungen vonnöten, die in der Arbeitsmedizin als „Zwangshaltungen“ benannt sind, können diese zu gesundheitlichen Nachteilen führen. In der zahnärztlichen Praxis wird eine solche Zwangshaltung bei der Behandlung von Patienten eingenommen. Im Sitzen mit leicht vorgebeugtem Oberkörper und Kopf erhöht sich die Spannung der Rückenmuskulatur, der Druck auf die Bandscheiben nimmt zu. Eine Drehung des Oberkörpers und vorgehaltene Arme erhöhen die Belastung. Der Rumpf entlastet die Wirbelsäule mit einem Pressdruck, der vom Brustkorb und Bauch aufgebaut wird. Die Atmung wird dadurch reduziert.

Um mit der Hand präzise auf kleiner Fläche arbeiten zu können, bedarf es, für die Führung der Hand, einer festen Basis. Die Schulter wird fixiert. Damit wird auch die Beweglichkeit der mit dem Schulterblatt verbundenen Rippen und Wirbel reduziert. In komplizierten

Behandlungssituationen durchaus eine Körperhaltung, die über Minuten eingehalten werden muss.

Konzentriert auf den Arbeitsablauf tritt die mit dieser Haltung verbundene Körperempfindung in den Hintergrund. Das für die Handlung erforderliche und erfolgreiche motorische Muster beinhaltet eine mögliche Verspannung, die durch Wiederholung zum Bewegungsmuster werden kann. Verbunden mit einer Reduzierung des Selbstempfindens und eingeschränkter Steuerungsfähigkeit komplexer Muskelgruppen, sind es oft erst auftretende deutliche Schmerzen, die Anlass zu Veränderungen geben.

„Wir handeln dem Bild nach, das wir uns von uns machen;“ beginnt Feldenkrais 1967 seine Abhandlung „Bewusstheit durch Bewegung“.

Unser Selbstbild sieht er auch mit kulturellen und sozialen Aspekten verknüpft, die ihren Ausdruck in der Art wie wir unsere Bewegungen im Handeln organisieren finden. Durch unsere Lebenserfahrungen werden die Vorstellungen von dem uns möglichen Bewegungsrepertoire gefestigt.

Die Bewegungspädagogik von Feldenkrais unterläuft diese festen Selbstannahmen, indem Bewegungen wieder mit den durch sie ausgelösten Empfindungen in Muskeln, Sehnen und Gelenken verbunden werden. Die Bewegungen werden oft klein und langsam ausgeführt. Je geringer die Anstrengung desto genauer werden Bewegungszusammenhänge erfahrbar. Um dies zu erleichtern, wird anfangs zumeist im Liegen geübt.

Beispielsweise kann es zuerst darum gehen wahrzunehmen, wie sich das Rollen des Beckens entspannend auf die Muskulatur entlang der Wirbelsäule aus wirkt, wie dies wiederum die Beweglichkeit der Schulterblätter verändert, wodurch eine Entspannung im Nacken- und Kieferbereich eintreten kann. Sind derartige funktionale Zusammenhänge in unserer Selbstorganisation einmal empfunden, lassen sie sich auch leicht auf sitzende und stehende Positionen übertragen.

Im Kompromiss zwischen der Ergonomie des Behandlers und dem Wohlbefinden des Patienten lassen sich Zwangshaltungen nicht vermeiden. Bauen sich Verspannungen auf, können sie jedoch mit einfachen Bewegungsfolgen wieder abgebaut werden. Dabei hilft die wieder erlernte Wahrnehmung komplexer Bewegungszusammenhänge. Funktionale anatomische Zusammenhänge am eigenen Leib erlebend zu verstehen, stärkt das Selbstvertrauen und erleichtert die Verarbeitung von physischen und psychischen Belastungen. Die über die Bewegung angeregten Veränderungen wirken sich positiv auf unser ganzes Selbstempfinden aus. Nach dem Arbeitstag gelöst den Feierabend zu beginnen wird möglich.

  Jan-Olav Hinz, Schönbek

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